Neurobiologische Grundlagen der Stressregulation
Das Ampelmodell von Stephen Porges[1]
Sicherheit ist für uns Menschen überlebensnotwendig. Deswegen haben wir ein Nervensystem entwickelt, das unsere Umgebung beständig scannt und auf Gefahr hin einschätzt. Dies wird Neurozeption genannt. Es gibt unterscheidbare neuronale Schaltkreise, die die Verhaltensweisen sozialen Engagements (z.B. als Voraussetzung guter Beziehungen) und die Defensivstrategien Kampf, Flucht und Erstarren unterstützen. Das Nervensystem schätzt ohne Mitwirkung des Bewusstseins Gefahren in der Umgebung ein. Die Neurozeption sicherer, gefährlicher oder lebensbedrohlicher Umgebungen steuert adaptives, angepasstes Verhaltens. Prosoziale Ver-haltensweisen und die Entfaltung der positiven Auswirkungen physiologischer Zustände, die mit sozialer Unterstützung verbunden sind (z.B. als Voraussetzung für gute Beziehungen) erfordern eine Neurozeption der Sicherheit. Die Gefahrenabschätzung per Neurozeption ist unbewusst, unwillkürlich und blitzschnell. Sie erfolgt in drei Kategorien: sicher – gefährlich – lebensgefährlich. Sie bringt unser Nervensystem, unseren Körper und Geist in eine von drei unterschiedlichen Zuständen. Für jeden dieser Zustände sind bestimmte Fähigkeiten hinsichtlich der Affektregulierung, des sozialen Engagements und der Kommunikation charakteristisch (s.a. S. 284). Dies ist entscheidend dafür, ob und wie gut Beziehungsfähigkeit ausgeprägt wird. Porges hat dafür das Ampelmodell entwickelt. Er unterscheidet drei Zustände bzw. Modi:
- Grün bei Sicherheit
- Gelb bei Gefahr
- Rot bei Lebensgefahr
- Sicherheit: Die Neurozeption von Sicherheit ist die Voraussetzung für Stressabbau, prosoziale Verhaltensweisen sowie für gute Beziehungen zu sich selbst und anderen. Möchte man gute Bedingungen dafür schaffen, so ist also die Herstellung einer Sicherheit gebenden Atmosphäre und vertrauensvoller sicherer Beziehungen das entscheidende, grundlegende Kriterium. Alle Maßnahmen zum Stressabbau können nur auf dieser Basis wirksam werden.
Nur wenn Sicherheit herrscht, können Körper, Nervensystem und Geist Stress abbauen und zwar völlig unabhängig davon, was man bewusst will. Nur bei Neurozeption von Sicherheit schalten Gehirn und Nervensystem den Organismus in den „grünen“ Modus. In diesem Modus ist besonders der frontale Kortex (Frontalhirn) angeschaltet und funktionsfähig, der u.a. für Meditieren, Reflektieren, Kommunikationsfähigkeit, Handlungsplanung, Hemmung unerwünschter Impulse und Regulation von Gefühlen verantwortlich ist.
Im System Soziales Engagement ist man offen, kommuniziert miteinander über Stimme, Mimik und Gestik. Besonders dadurch werden miteinander Signale ausgetauscht, die Aufschlüsse über den inneren Zustand des Gegenübers und dessen freundliche Einstellung uns gegenüber geben. Auf diese Weise kann man gegenseitig erfahren, dass die Situation sicher ist. Dann werden defensive Mechanismen vom Nervensystem gehemmt, man wird entspannter, aufnahmebereit, auch lernfähig. Positive Erlebnisse (Anerkennung, Wertschätzung, Freude, Stolz) fördern das Sich- Einlassen auf die Umgebung, die ( Lern- ) Motivationssysteme springen an, Neugierde und Erforschungsverhalten werden gestärkt oder ermöglichen Rückzug für Entspannung und Stressabbau.
Der Zustand macht Spaß und ist aus sich heraus intrinsisch motiviert. Die Fähigkeit, mit Herausforderungen fertig zu werden, wächst massiv. Die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung ruhiger Zustände, zum besseren Zuhören, zur emotionalen Regulation und zur Selbstregulation wird gestärkt. Zugleich wird unsere Gesundheit, unser Immunsystem gestärkt.
- Gefahr: In solchen Situationen werden limbische Defensivschaltkreise aktiviert, um den betreffenden Menschen zu schützen. Der Körper wird in einen Zustand der Mobilisierung für Verteidigung versetzt – Flucht oder Kampf. Die Tendenz, Kommunikationssignale als bedrohlich wahrzunehmen, wächst stark. Der Organismus stellt mehr Energie bereit, um einer Gefahr zu begegnen, dazu muss er die Erfüllung anderer Bedürfnisse – z.B. Kommunikation, Lernen, Entspannung – einschränken. Angst, Unruhe, aggressives Verhalten oder Rückzug, Vermeidungsverhalten sowie entsprechende körperliche Reaktionen wie die Erhöhung des Blutdrucks sind die Folge.
- Lebensgefahr: Wenn als Reaktion auf Furcht vor einer Gefahr Mobilisierung nicht möglich ist – weder Kampf noch Flucht sind möglich und sinnvoll – wird der Körper in einen Zustand der Immobilisierung versetzt. Dies stellt eine Art biologischer Totstellreflex dar. Es erfolgt eine physiologische Abschaltung und eine Hemmung des Sozialverhaltens und Lernens: Verhaltensstarre und Lähmung sind die Folge. Der Stress ist extrem hoch und die körperlichen Reaktionen sind entsprechend.
Die Wahrnehmung von Sicherheit ist ausschlaggebend für das Anknüpfen von Beziehungen zu sich selbst und anderen. Davon hängt ab, ob sich prosoziales oder defensives Verhalten entfaltet. Bevor eine entwicklungsförderliche Beziehung zu anderen Menschen oder sich selbst entstehen kann, müssen beide Beteiligte einander als ungefährlich wahrnehmen oder man selbst als Person das eigene Innere als ungefährlich wahrnehmen. Wird also der Kontext und werden die beteiligten Personen als ungefährlich wahrgenommen, können neurobiologische Defensivreaktionen gehemmt und das System Soziales Engagement (als Voraussetzung für Stressabbau) kann aktiv werden. (s.a. S. 203)
Schutz-, Bewältigungs- und Abwehrhaltungen der Systeme ● und ● werden als Folge von negativen Assoziationen zu bestimmten Umgebungsreizen erlernt. Sie werden danach bei Auftreten ähnlicher Umgebungsreize unwillkürlich aktiviert. Die assoziative Verknüpfung wird sehr leicht erlernt, kann aber nur sehr schwer wieder gelöscht werden. (s.a. S. 185) Chronischer Stress oder Furcht aufgrund bedrohlicher Umweltfaktoren tragen zur Chronifizierung und Verhärtung der Schutz-, Bewältigungs- und Abwehrhaltungen der Systeme ● und ● bei. Diese Systeme sind entwicklungsgeschichtlich älter und undifferenzierter als das „grüne“. Auf sie greift das Nervensystem dann zurück, wenn Gefahrenbewältigung durch soziale Problemlösungsstrate-gien (z.B. miteinander sprechen, sozialen Austausch pflegen, sich gegenseitige unterstützen) nicht ausreichend funktionieren. Die Qualität der bestehenden zwischenmenschlichen Beziehungen, einschließlich der Beziehung zu sich selbst, ist hierbei das entscheidende Kriterium.
Grundsätzlich gilt:
Es ist zutreffender, Affekt und interpersonales soziales Verhalten als biobehaviorale Prozesse zu bezeichnen, als sie psychologisch zu nennen., da unser physiologischer Zustand die Qualität dieser psychologischen Prozesse erheblich beeinflussen kann und unsere Gefühle unsere Physiologie unablässig verändern. (s.a. S. 283)
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[1] Porges, Stephen W. – Die Polyvagaltheorie , Paderborn, 2010