Schulisches Lernen – Bewertung und Beschämung aus neurowissenschaftlicher Sicht

Schulisches Lernen – Bewertung und Beschämung aus neurowissenschaftlicher Sicht

Sicherheit ist für uns Menschen überlebensnotwendig. Deswegen haben wir ein Nervensystem entwickelt, das unsere Umgebung beständig scannt und auf Gefahr hin einschätzt. Dies wird Neurozeption1 genannt. Sie ist unbewusst, unwillkürlich und blitzschnell. Die Gefahrenabschätzung erfolgt in 3 Kategorien: sicher – gefährlich – lebensgefährlich? Sie bringt unser Nervensystem, unseren Körper und Geist in eine von 3 unterschiedlichen Zuständen, die sich sehr unterschiedlich auf das schulische Lernen auswirken:

Sicherheit: Das Grundgefühl von Sicherheit ist die Voraussetzung für gelingendes Lernen. Die für das Lernen wichtigen Hirnareale sind aktiviert. Offenheit, Neugierde und Lust am Lernen können vorherrschen, dann macht das Lernen miteinander Spaß. Das Gelernte wird mit angenehmen Erfahrungen und Gefühlen gekoppelt, so gespeichert und ist leicht abrufbar. Die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung ruhiger Zustände, zum Zuhören und zur Selbstregulation werden gestärkt. Dies trägt zu besseren Lernleistungen bei. Ausserdem können gleichzeitig die für die Zukunft unserer Kinder in einer sich dramatisch wandelnden Gesellschaft so wichtigen „social skills“ mitentwickelt werden – z.B. Verantwortungsbereitschaft, Selbstorganisation, Teamfähigkeit, Einfühlung in das Gegenüber, Fähigkeit zur kreativen Problemlösung.

Gefahr:   In solchen Situationen werden Defensivschaltkreise im Gehirn und Nervensystem aktiviert, um den betreffenden Menschen zu schützen. Der Körper wird in einen Zustand der Mobilisierung für Verteidigung versetzt – es gibt nur die Alternativen Kampf oder Flucht. Die Kampfhaltung zeigt sich bei Schülern/Schülerinnen z.B. als aggressives Verhalten, körperliche Unruhe, Unkonzentriertheit, hoher Lautstärkepegel; die Fluchthaltung z.B. als Rückzug, Vermeidungsverhalten ( sich nicht beteiligen, Aufgaben nicht machen, wegträumen ). Lernen wird für alle Beteiligten sehr anstrengend und ineffektiv. Die Tendenz, Kommunikations-Signale als bedrohlich wahrzunehmen, wächst stark. Es kann kaum etwas gelernt werden, denn das ganze System ist auf ein Ziel hin ausgerichtet: Beseitigung der Gefahr und Wiederherstellung von Sicherheit. Die Hirnareale, die besonders für das Lernen wichtig sind, sind heruntergefahren. Das was noch gelernt wird, wird mit dem emotionalen Zustand, in dem es gelernt wird, gekoppelt und abgespeichert – vor allem Angst. Wenn das Gelernte erinnert werden soll, taucht die Angst unvermeidlich mit auf.2 Ergebnis ist, dass das Gelernte vermieden wird, weil es mit unangenehmen Gefühlen verbunden ist. Der Wert des Gelernten ist so gering. Die generelle Motivation zum Lernen ist herabgesetzt, Lernen ist für Schüler und Lehrer anstrengend.

Lebensbedrohung: wenn als Reaktion auf Furcht vor einer Gefahr eine Mobilisierung nicht möglich ist – z.B. weil aggressives Verhalten bestraft wird und Flucht unmöglich ist ( Schulpflicht ! ) – wird der Körper in einen Zustand der Immobilisierung versetzt. Dies stellt eine Art biologischer Totstellreflex dar. Es erfolgt eine physiologische Abschaltung und eine Hemmung des Sozialverhaltens und Lernens: Verhaltensstarre und Lähmung ist die Folge. Lernen ist so gut wie nicht mehr möglich. Da Sicherheit durch aktive Strategien nicht mehr wiederherstellbar erscheint, wird das ganze System – Körper und Nervensystem – ganz weit heruntergefahren. Die für das Lernen entscheidenden Hirnareale sind ( fast vollständig ) abgeschaltet. Der Schüler wirkt abwesend, „nicht mehr da“. Häufig wird dies fehlinterpretiert als fehlender Wille, etwas lernen zu wollen. Erfolgt dann Bestrafung oder verbaler Angriff auf den Schüler, wird seine Abschalt-Reaktion zementiert. Häufig ist eine körperliche Symptomatik damit verbunden, besonders Bauchschmerzen, Übelkeit. Ist dieser Zustand erst einmal eingetreten ist es sehr schwer, ihn wieder zu verändern3. Es werden negative Schulkarrieren gebahnt.

Zustand und führen bei den Schülern zu der verbreiteten „Null-Bock“-Haltung. Diese kann verstanden werden als nachvollziehbare Anpassungsreaktion auf für das Lernen unzuträgliche Rahmenbedingungen, einen unpassenden Kontext. Es kann davon ausgegangen werden, dass die erschreckend hohe Anzahl von Jugendlichen, welche die Schule ohne Abschluss verlassen ( 2010 etwa 10% in Brandenburg ! ) hiermit im Zusammenhang steht.

Welche besonders lern- und entwicklungshemmenden Faktoren, die zu den Zuständen und beitragen, haben die Neurowissenschaften bisher unter Anderem entdeckt?

Zur Beantwortung dieser Frage ist folgender Sachverhalt entscheidend: unser Gehirn und Nervensystem stammt noch aus der Zeit, als wir Menschen nur in Gruppen in der Natur überleben konnten. Bewertung durch Andere und folgende Selektion, d.h. Aussortierung und Ausstoßung aus der sozialen Gruppe, war damals gleichbedeutend mit dem sicheren Tod. Aus diesem Grund ist dies bis heute eng verbunden mit dem Gefahr- und Lebensbedrohungssystem.

 

  1. Stress und Druck durch Bewertung und Selektion.

Unser schulisches Noten- und Leistungsmessungssystem basiert auf Bewertung und Selektion.4 Die Pädagogik hat lange vertreten, Schüler bräuchten Druck, um etwas zu lernen. Heute ist nachgewiesen, dass dies nicht nur falsch ist sondern paradoxerweise das genaue Gegenteil stimmt: es hemmt Lernen und Entwicklung oder macht dies sogar unmöglich5.

  1. Beschämung und Schmerz.

Aus dem gleichen Grund sind Bloßstellungen, Beschämungen, Kränkungen und Entwertungen bis heute verbunden mit dem Gefahr- und Lebensbedrohungssystem. All dies kommt in der Schule leider noch sehr häufig vor.6 Sie stellen eine Form psychischer Gewalt dar, welche bis heute im öffentlichen Bewusstsein nicht genügend wahrgenommen und thematisiert wird.7 Sie können durch Mitschüler erfolgen, z.B. durch Hänseleien oder Mobbing. Sie können durch Lehrer erfolgen, z.B. Lächerlichmachen, Herausstellen von Fehlern, Unfähigkeit oder geringer Leistung oder durch herabsetzende Zuschreibungen ( „Du Vergesskopf! Du Mistkäfer! Du bist ja zu blöd! Aus euch wird nie was!“ usw. usw. )8

Die Neurowissenschaften haben nachgewiesen: Der durch Beschämung hervorgerufene Schmerz wird in denselben Hirnzentren verarbeitet wie körperlicher Schmerz und führt zu den selben Reaktionen.9 Dazu zählen die Aktivierung der Systeme ( hier besonders die zum Schutz aktivierte Aggression ) und . Beides behindert Lernen und Entwicklung.

An manchen Orten hat man auf diese Erkenntnisse bereits reagiert. In Finnland – immerhin bei PISA führend – steht im Schulgesetz: „ Kein Kind darf beschämt werden!“

Im BGB ( § 1631, 2 ) ist seit 2000 verankert:

Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.

In unserer Gesellschaft wird dieses Phänomen leider zu oft noch übersehen, bagatellisiert und nicht ernst genommen. Viele betroffene Kinder sprechen nicht darüber – sie haben gar keine Hoffnung, gehört, ernstgenommen und wirklich geschützt zu werden. Wenn aber kein ausreichender Schutz existiert, dann ist keine Sicherheit gegeben und die Systeme und werden unwillkürlich aktiviert. Der Schüler nimmt eine defensive (Schutz-)haltung ein mit extrem destruktiven Folgen für Lernen und Entwicklung.

Zwei weitere Aspekte verdeutlichen die Tragweite von Beschämungen.

Erstens ist nachgewiesen, dass unser Nervensystem extrem sensibel gegenüber Beschämungen ist. Ein oder zwei Beschämungssituationen reichen aus, um einen Schüler / eine Schülerin in eine dauerhafte defensive Haltung zu bringen.10 Diese wieder aufzulösen ist dagegen sehr schwer. Es gibt nicht wenige Menschen, die sogar nach 50 Jahren schulische Beschämungssituation noch detailliert erinnern und schildern können.

Zweitens wurde entdeckt, dass wir Menschen beständig das, was Andere in unserer unmittelbaren Umgebung erleben ( z.B. den Schmerz von Beschämungen ) im eigenen Gehirn abbilden und unbewußt miterleben wie der Betroffene selbst – die sogenannten Spiegelneurone.11 Nicht nur das direkt von Beschämung betroffene Kind reagiert sondern alle Schüler und Schülerinnen einer Klasse erleben Beschämung und ihr Nervensystem reagiert wie oben beschrieben mit der Einnahme einer defensiven Schutzhaltung. Dies trägt z.B. zu Klassen bei, die gewöhnlich als laut, aggressiv oder besonders störend bezeichnet werden.

Entscheidend wäre also ein Schulklima, in dem sehr bewusst darauf geachtet wird, dass Beschämungen, Entwertungen, Zuschreibungen und Hänseleien vermieden oder bei Auftreten sofort thematisiert und wiedergutgemacht werden.

Im Lichte dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse müssen wir ausserdem ganz neu über unser bisheriges Noten- und Leistungsbewertungssystem nachdenken und dies in eine lern- und leistungsförderliche Richtung verändern.

 

V.i.S.d.P. Harald Lochmüller, Delmenhorster Str. 14a, 15738 Zeuthen

  1.  Siehe  Porges, Stephen W. – Die Polyvagaltheorie,  Paderborn, 2010
  2.  Siehe Spitzer, Manfred – Medizin für die Bildung, Heidelberg 2010,  bes. S.138 ff
  3. Bauer, Joachim – Schmerzgrenze, München 2011
  4. vgl. Czerny, Sabine – Was wir unseren Kindern in der Schule antun…und wie wir das ändern könnten; München 2010
  5. A.a.O. , S.203 ff
  6. vgl die Ergebnisse der INTAKT-Studie 2013,in:   Prengel, Annedore – Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz,  Verlag Barbara Budrich, Berlin 2013
  7. vgl. Hafeneger, Benno – Strafen, prügeln, missbrauchen , Gewalt in der Pädagogik, Frankfurt/Main 2011
  8.  Hafeneger, Benno – Gewalt im Klassenraum , Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 17.07.2012, http://www.fr-online.de/wissenschaft/gewalt-im-klassenraum–lehrer-darf-kein-beschaemungspaedagoge-sein-,1472788,16636036.html
  9. Bauer, Joachim – Lob der Schule  , Hamburg 2007   , bes. S. 30 ff
  10. Porges, Stephen W. – Die Polyvagaltheorie,  aaO, S. 184f
  11. siehe z.B.  Bauer, Joachim – Schmerzgrenze, München 2011, S. 57 ff