Schulisches Lernen – Unterstützende Faktoren aus der Sicht der Bindungsforschung

Entwicklungsgeschichtlich haben wir als Gattung Mensch nur überleben können, weil wir uns in festen Gruppen organisiert haben, in denen die Bindungsbeziehungen zwischen den Mitgliedern die entscheidenden lebenserhaltenden und Schutz gebenden Faktoren waren. Entsprechend tief verankert ist das Bindungssystem auch heute noch in uns und spielt eine zentrale Rolle für schulisches Lernen und die Entwicklung unserer Kinder.

Die Bindungsforschung präsentiert mittlerweile gesicherte Erkenntnisse über entwicklungsfördernde und -hemmende Faktoren.1 Da menschliche Bindungen lebenslang essentiell sind und gesucht werden, können die Ergebnisse – sich vorwiegend auf frühkindliche Bindungserfahrungen und deren Folgen für die Entwicklung beziehenden Forschungen – auch auf schulisches Lernen und die Entwicklung der Lernenden übertragen werden.

 

Die Bindungsforschung beschreibt zwei grundlegende motivationale Systeme im Menschen: das Bindungssystem und das Explorationssystem ( Lernsystem ). Beide sind genetisch als Potentiale angelegt. Sie sind wechselseitig voneinander abhängig wie auf einer Wippe: damit ein Lernender seine Potentiale zu guter Entwicklung, Lern- und Leistungsfähigkeit entfalten kann, braucht er zuvor eine optimale Erfüllung seiner Bindungsbedürfnisse. Hierbei handelt es sich um unverzichtbare, wertschätzbare Bedürfnisse nach emotionaler Sicherheit, Schutz und Wohlbefinden in der Klasse/ Lernumgebung.

Nur wenn dies gegeben ist, wird das Bindungssystem sozusagen abgeschaltet und das Lern- u. Explorationssystem kann aktiviert werden – es entstehen Motivation, Lern- und Leistungsbereitschaft. Diese sind bereits vorprogrammiert als intrinsische, selbstgesteuerte Motivation!

 

Die immer noch verbreitete Überzeugung, Schüler bräuchten Druck, um zu lernen, ist aus der Sicht der Bindungsforschung grundfalsch und kontraproduktiv. Das Gegenteil ist richtig: Lern- und Leistungsbereitschaft entstehen spontan, wenn die ( Bindungs- ) Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Auch das Gras wächst nicht, indem man daran zieht, sondern indem man für optimale Bedingungen sorgt – Licht, Erde, Wasser, Dünger. Ein Kind lernt nicht Laufen, indem man es beständig schubst, es lernt es, weil es von selbst Laufen lernen möchte.

 

Absolut zentral für eine gute Entwicklung, für Lern- und Leistungsbereitschaft ist die Beziehung zwischen LehrerIn und Lernendem. Aus Sicht der Bindungsforschung handelt es sich hierbei um ein selbstregulierendes ( Beziehungs- ) System, dessen Teile sich wechselseitig bedingen. Die Motivation der Lernenden ist weitestgehend von der Angemessenheit der Interaktion zwischen LehrerIn und Lernenden abhängig. Ein unverzichtbares Element der Angemessenheit stellt die Reziprozität ( Wechselseitigkeit ) der Beziehung zwischen LehrerIn und Lernendem dar: Beide Partner können ihre rational und emotional wichtigen Ziele einbringen, sie reflektieren und die gemeinsamen Ziele partnerschaftlich verhandeln und korrigieren.

 

Dieses fundamentale Prinzip wird durch im heutigen Schulsystem noch strukturell angelegte einseitig-autoritäre Beziehungsgestaltung – einseitige Belehrung seitens des Lehrers, starre Lehrpläne, reine Wissensvermittlung usw. – bereits so grundlegend verletzt, dass all dies lernverhindernd wirkt. Aus Sicht der Bindungsforschung müsste das Schulsystem so angelegt werden, dass die Bindungsbedürfnisse der Lernenden erfüllbar sind und die Eigenmotivation der Lernenden als fundamental gestalterische Kraft einen flexiblen und Halt gebenden Raum bekommt. Der Fokus müsste auf selbstgesteuerten Lernprozessen mit Unterstützung der LehrerInnen liegen.

 

Aus Sicht der Bindungsforschung ist die Qualität der Beziehung zwischen LehrerInnen und Lernenden die für eine gute Entwicklung entscheidende Variable.

Hierin besteht eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit einem zentralen Ergebnis der Hattie- Studie.2

 

Aus der Bindungsforschung lassen sich entscheidende Qualitäten der Haltung und des Verhaltens von LehrerInnen ableiten, welche auf die Bindungsseite einerseits und die Explorationsseite andererseits lern- und entwicklungsfördernd wirken.

 

1. Fördernde Faktoren auf der Bindungsseite

Zentral ist die Feinfühligkeit des Lehrers/ der Lehrerin in Bezug auf die Wahrnehmung der Signale der Lernenden, deren empathische und richtige Deutung und des daraufhin angemessenen unterstützenden Verhaltens. Feinfühligkeit ist lernbar.

 

Dafür bräuchten LehrerInnen eine entsprechende Ausbildung, eine berufsbegleitende Supervision ( wie dies in anderen Berufen, in denen die Beziehung eine ähnlich zentrale Bedeutung hat wie etwa bei Psychotherapeuten, mittlerweile Standard ist ) und je nach Belastungserfahrungen in der eigenen Biografie eine Eigenpsychotherapie ( wie dies z.B. in der Ausbildung zum Psychotherapeuten fester Bestandteil ist ). Hierzu müssten die zeitlichen und finanziellen Mittel strukturell verlässlich zur Verfügung gestellt werden. Dies wäre eine unverzichtbare, sinnvolle und letztlich auch ökonomisch gewinnbringende Investition.

 

Weitere fördernde Faktoren sind die Beachtung des eigenen Lern-Rhythmus des Lernenden, der Wechselseitigkeit im Austausch ( Reziprozität ), der dabei besonders wichtigen Möglichkeit zur Korrektur von Missverständnissen, der bewussten Nutzung von Sprache, Prosodie ( Stimmführung, Sprachmelodie ) sowie generell eines respektvollen, gegenseitig wertschätzenden Umgangs miteinander.

 

Werden diese Beziehungsqualitäten gelebt, hat dies tiefgreifend positive Auswirkungen auf Entwicklung und schulisches Lernen: LehrerInnen sind dann eine emotional sichere Basis für die Lernenden. Da die Interaktionen zwischen LehrerInnen und Lernenden wenig oder keine angstmachenden, bedrohlichen Aspekte mehr haben, kann das schutzsuchende Bindungssystem abgeschaltet werden, der Stress ( z.B. der Cortisolspiegel ) bleibt niedrig. Dies fördert die psychische Stabilität und die Belastbarkeit ( Resilienz ) aller Beteiligten ( u.a. weniger kranke LehrerInnen ! ) sowie prosoziales Verhalten der Lernenden.. Die Steuerung von Affekten und Impulsen verbessert sich signifikant; dies vermindert das Auftreten aggressiven, unruhigen Verhaltens bei Lernenden deutlich. All diese Verbesserungen verstärken sich zudem gegenseitig ( z.B. ist in einem ruhigen Klima Lernen wesentlich besser möglich als bei Lautstärke und Unruhe ).

 

Im Gegensatz dazu lässt sich aus der Bindungsforschung ableiten, dass bereits die derzeit noch allgegenwärtige Doppelfunktion der LehrerInnen strukturell das Bindungssystem der SchülerInnen permanent aktiviert und damit die Voraussetzungen für ein gelingendes Lernen stark vermindert: einerseits soll der Lehrer/ die Lehrerin UnterstützerIn im Lernprozess sein und andererseits gleichzeitig PrüferIn, der/ die per Notengebung u.a. über die Zugehörigkeit eines Schülers/ einer Schülerin zu einer sozialen Gruppe bzw. deren Ausschluss daraus( Sitzenbleiben, Selektion in weiterführende Schulformen ) entscheidet. Drohender Ausschluss aus einer wichtigen sozialen Gruppe und die Bewertung ( Entwertung ) durch Andere sind auf dem Hintergrund deren entwicklungsgeschichtlich potentiell lebensbedrohlicher Bedeutung die vermutlich stärksten das Bindungssystem aktivierenden Faktoren, also diametral lernhemmend! Diese Doppelfunktion bringt LehrerInnen in einen unauflösbaren Widerspruch und macht wegen der Aufhebung ihrer Schutzfunktion für die Lernenden manche so wertvolle pädagogische Bemühung zunichte. Diese Doppelfunktion sollte unbedingt aufgehoben werden. Interessanterweise gibt es bereits von progressiven Pädagoginnen und Pädagogen Ideen, die Prüfungsseite aus der Schule auszugliedern und extern zu organisieren. Dies ist aus der Sicht der Bindungsforschung absolut zu begrüßen und wäre ein Ausweg aus dem bisherigen Dilemma.

 

2. Fördernde Faktoren auf der Explorationsseite

Wenn die Bindungsbedürfnisse der Lernenden ausreichend erfüllt sind, wird deren Lern- und Explorationssystem von ganz allein aktiviert. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass diese Seite von LehrerInnen gefördert werden kann. Jetzt können weitere Beziehungsqualitäten des Lehrers/ der Lehrerin wirksam werden.

Hierzu gehört besonders die Fähigkeit des Lehrers/ der Lehrerin, eine gute Balance zu finden zwischen Raum geben zu selbstgesteuertem, neugiergeleitetem Lernen einerseits und strukturieren, aktiv Anregungen geben und Richtungen aufzeigen andererseits. Als Zweites sind regelmäßige, persönliche Feed-backs der LehrerInnen auf der Basis der beschriebenen individuellen persönlichen Beziehungen zu den Lernenden unter Berücksichtigung der Wechselseitigkeit ( Reziprozität ) extrem selbstwert-, lern- und leistungsfördernd. Die Lernenden fühlen sich wertgeschätzt; als Persönlichkeiten mit eigenen Kompetenzen, Potentialen und Defiziten wahrgenommen und respektvoll behandelt. Welche enormen entwicklungs-, lern- und leistungsfördernden sowie persönlichkeitsbildenden Auswirkungen dies hat, kann man schon jetzt an Schülern von Schulen erkennen, die diese Prinzipien seit Jahren beherzigen.3

 

Herkömmliche Schulnoten unterscheiden sich davon fundamental und können diese Funktion in keiner Weise leisten. Sie werden aus einer asymmetrischen Beziehung heraus, von oben herab unter Verletzung des Prinzips der Wechselseitigkeit ( Reziprozität ) gegeben mit den beschriebenen destruktiven Folgen. Es ist bekannt, dass sie keinesfalls die realen Kompetenzen der Lernenden abbilden. Es ist daher kein Zufall sondern folgerichtig, dass von progressiven PädagogInnen die Abschaffung unseres bisherigen Notensystems und die Einführung anderer Systeme gefordert und z.T. auch schon erfolgreich praktiziert wird.4

Eines ist sicher: Es geht! Und es hat enorm positive Auswirkungen!

Wir haben kein Wissensproblem mehr – die Bindungsforschung bestätigt die Erkenntnisse aus Entwicklungspsychologie, Neurobiologie und zahlreichen verwandten Disziplinen 5– sondern ein Umsetzungsproblem. Es gilt zu handeln.

 

V.i.S.d.P.:  Harald Lochmüller, Delmenhorster Str. 14a, 15738 Zeuthen

  1.  Eine Einführung bei: Brisch, Karl Heinz – Bindungsstörungen , Stuttgart 2009
  2.  Siehe bei Müller, Andreas – Die Schule schwänzt das Lernen, Bern 2013; besonders S. 17 und 157. Mit einer Effektstärke von .72 kommt der Beziehung Lehrer-Lernender eine hochrelevante Bedeutung zu. Die Fachkompetenz des Lehrers ist mit einer Effektstärke von.09 dagegen fast unbedeutend! Siehe S. 159
  3.  z.B. die Evangelische Schule Berlin Zentrum ( ESBZ ), das Schulzentrum Beatenberg ( Schweiz ). Hier gibt es u.a. Videomaterial, auf dem das Selbstbewusstsein und die Lernmotivation der SchülerInnen deutlich wird. http://www.ev-schule-zentrum.de | http://www.institut-beatenberg.chhttp://www.schule-im-aufbruch.de, hier besonders die DVD Roadshow – Lernlust statt Schulfrust, 2013
  4.  Siehe z.B. Rasfeld, Margret, Spiegel, Peter – EduAction, Hamburg 2012
    zur Notenproblematik generell: Czerny, Sabine –Was wir unseren Kindern in der Schule antun…und wie wir das ändern können,  München 2010
  5.  Darstellung der Ergebnisse zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen bei Müller, Andreas – a.a.O.