Das Ampelmodell von Stephen Porges
Sicherheit ist für uns Menschen überlebensnotwendig. Deswegen haben wir ein Nervensystem entwickelt, das unsere Umgebung beständig scannt und auf Gefahr hin einschätzt. Dies wird Neurozeption genannt. Es gibt unterscheidbare neuronale Schaltkreise, die die Verhaltensweisen sozialen Engagements (als Voraussetzung gelingenden Lernens) und Defensivstrategien (Kampf, Flucht und Erstarren) unterstützen. Das Nervensystem schätzt ohne Mitwirkung des Bewusstseins Gefahren in der Umgebung ein. Die Neurozeption sicherer, gefährlicher oder lebensbedrohlicher Umgebungen steuert adaptives, angepasstes Verhaltens. Prosoziale Verhaltensweisen und die Entfaltung der positiven Auswirkungen physiologischer Zustände, die mit sozialer Unterstützung verbunden sind (als Voraussetzung für gelingendes Lernen) erfordern eine Neurozeption der Sicherheit. Die Gefahrenabschätzung per Neurozeption ist unbewusst, unwillkürlich und blitzschnell. Sie erfolgt in drei Kategorien: sicher – gefährlich – lebensgefährlich. Sie bringt unser Nervensystem, unseren Körper und Geist in eine von drei unterschiedlichen Zuständen. Für jeden dieser Zustände sind bestimmte Fähigkeiten hinsichtlich der Affektregulierung, des sozialen Engagements (des Lernens) und der Kommunikation charakteristisch (S. 284). Dies ist entscheidend dafür, ob und wie gut Lernen geschehen kann. Porges hat dafür das Ampelmodell entwickelt. Er unterscheidet 3 Zustände bzw. Modi:
• Grün bei Sicherheit
• Gelb bei Gefahr
• Rot bei Lebensgefahr
• Sicherheit: Die Neurozeption von Sicherheit ist die Voraussetzung für prosoziale Verhaltensweisen und das Lernen. Das ist entscheidend für schulisches Lernen. Möchte man gute Bedingungen für gelingendes Lernen schaffen, so ist die Herstellung einer sicherheitgebenden Atmosphäre und vertrauensvoller sicherer Beziehungen das entscheidende, grundlegende Kriterium. Alle pädagogischen Maßnahmen können nur auf dieser Basis wirksam werden. Das ist in etwa vergleichbar damit, dass am Auto passende Reifen vorhanden sind, um die Motorleistung auf die Straße bringen zu können. Mit Fahrradreifen kann der Motor noch so leistungsfähig sein – es kann dann nicht umgesetzt werden. Ähnlich ist es mit dem Lernen: nur wenn Sicherheit herrscht, kann das Gehirn optimale Lernleistungen erbringen, und zwar völlig unabhängig davon, was wir bewusst wollen. Nur bei Neurozeption von Sicherheit schalten Gehirn und Nervensystem den Organismus in den • Modus. In diesem Modus ist besonders der frontale Kortex angeschaltet und funktionsfähig, der für Lernen, Reflektieren, Kommunikationsfähigkeit, Handlungsplanung, Hemmung unerwünschter Impulse und Gefühle verantwortlich ist.
Das System Soziales Engagement funktioniert, wir sind offen, kommunizieren miteinander über Stimme, Mimik und Gestik. Besonders dadurch tauschen wir miteinander Signale aus, die uns Aufschlüsse über den inneren Zustand unseres Gegenübers und dessen freundliche Einstellung uns gegenüber geben. Auf diese Weise versichern wir uns gegenseitig, dass die Situation sicher ist. Dann werden defensive Mechanismen vom Nervensystem gehemmt, wir sind aufnahmebereit und lernfähig. Positive Erlebnisse (Anerkennung, Wertschätzung, Freude, Stolz) fördern das Sich- Einlassen auf die Umgebung, die (Lern-) Motivationssysteme springen an, Neugierde und Erforschungsverhalten werden gestärkt. Lernen macht in diesem
Zustand Spaß und ist aus sich heraus intrinsisch motiviert. Die Fähigkeit, mit schulischen Herausforderungen fertig zu werden, wächst massiv. Die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung ruhiger Zustände, zum besseren Zuhören, zur emotionalen Regulation und zur Selbstregulation wird gestärkt. Zugleich wird unsere Gesundheit, unser Immunsystem gestärkt.
• Gefahr: In solchen Situationen werden die limbischen Defensivschaltkreise aktiviert, um den betreffenden Menschen zu schützen. Der Körper wird in einen Zustand der Mobilisierung für Verteidigung versetzt – Kampf oder Flucht. Die Tendenz, Kommunikations-Signale als bedrohlich wahrzunehmen, wächst stark. Der Organismus stellt mehr Energie bereit, um der Gefahr zu begegnen, dazu muss er die Erfüllung anderer Bedürfnisse – z.B. Lernen und Entwicklung – einschränken. Angst, Unruhe, aggressives Verhalten oder Rückzug, Vermeidungsverhalten (sich nicht beteiligen, Aufgaben nicht machen, wegträumen) sind die Folge.
• Lebensgefahr: Wenn als Reaktion auf Furcht vor einer Gefahr Mobilisierung nicht möglich ist – weder Kampf noch Flucht sind möglich und sinnvoll – wird der Körper in einen Zu-
stand der Immobilisierung versetzt. Dies stellt eine Art biologischer Totstellreflex dar. Es erfolgt eine physiologische Abschaltung und eine Hemmung des Sozialverhaltens und Lernens: Verhaltensstarre und Lähmung sind die Folge. Schulisches Lernen ist in diesem Zustand kaum noch möglich, selbst wenn es bewusst gewollt wird.
Generell gilt: Der physiologische Zustand schränkt das Spektrum der Möglichkeiten des Verhaltens und des psychologischen Erlebens ein. (S. 199) Und damit zugleich die Möglichkeiten zu Lernen und Entwicklung.
Die Wahrnehmung von Sicherheit ist ausschlaggebend für das Anknüpfen von Beziehungen. Von ihr hängt ab, ob sich prosoziales (lernförderliches) oder defensives Verhalten entfaltet. Bevor eine lern- und entwicklungsförderliche soziale Beziehung entstehen kann, müssen bei- de Beteiligte einander als ungefährlich wahrnehmen. Nehmen beide Beteiligten den Kontext und den Kommunikationspartner als ungefährlich wahr, können sie ihre primitiven neurobiologischen Defensivreaktionen hemmen , und das System Soziales Engagement ( als Voraussetzung des Lernens ) kann aktiv werden. (S. 203)
Schutz-, Bewältigungs- und Abwehrhaltungen der Systeme • und • werden als Folge von negativen Assoziationen zu bestimmten Umgebungsreizen erlernt. Sie werden danach bei Auftreten ähnlicher Umgebungsreize unwillkürlich aktiviert. Die assoziative Verknüpfung wird sehr leicht erlernt, kann aber nur sehr schwer wieder gelöscht werden. (S. 185) Chronischer Stress oder Furcht aufgrund bedrohlicher Umweltfaktoren tragen zur Chronifizierung
und Verhärtung der Schutz-, Bewältigungs- und Abwehrhaltungen der Systeme • und • bei. Diese Systeme sind entwicklungsgeschichtlich älter und undifferenzierter. Auf sie greift das Nervensystem dann zurück, wenn Gefahrenbewältigung durch soziale Problemlösungsstrategien – miteinander sprechen, sozialen Austausch, gegenseitige Unterstützung – nicht ausreichend funktionieren. Die Qualität der bestehenden zwischenmenschlichen Beziehungen ist hierbei das entscheidende Kriterium.
Es ist zutreffender, Affekt und interpersonales soziales Verhalten als biobehaviorale Prozesse zu bezeichnen, als sie psychologisch zu nennen., da unser physiologischer Zustand die Qualität dieser psychologischen Prozesse erheblich beeinflussen kann und unsere Gefühle unsere Physiologie unablässig verändern. (S. 283)
Literatur: Porges, Stephen W. – Die Polyvagaltheorie, Paderborn, 2010
V.i.S.d.P. Harald Lochmüller, Delmenhorster Str. 14a, 15738 Zeuthen