Beschämung und subtile Gewalt in Schulen

Bis in die 60er/70er Jahre des vorigen Jahrhunderts war körperliche Züchtigung als Straf- und Erziehungsmaßnahme in der Pädagogik erlaubt und wurde von Lehrern und Erziehern als normal praktiziert. Seit 1998 ist das Schlagen von Kindern in Deutschland gesetzlich verboten. Im BGB ( § 1631, 2 ) ist seit 2000 verankert:

Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.

Leider wird diese eindeutige gesetzliche Bestimmung in der pädagogischen Realität noch nicht ausreichend umgesetzt. In der Schule sind körperliche Bestrafungen zwar gesellschaftlich geächtet und kommen kaum noch vor. Nicht selten sind sie aber von Formen verbaler und psychischer Gewalt abgelöst worden, die meist subtil auftreten. Diese gehören noch immer zum Schulalltag vieler Kinder.1 Sie werden von der Gesellschaft zumeist als normal hingenommen, bagatellisiert und nicht ernst genommen. Auf diese Weise sind unsere Kinder ihnen schutzlos ausgeliefert, was gravierende negative Auswirkungen auf das Lernen und die Entwicklung der Kinder hat.

In der gesellschaftlichen Entwicklung muss es aktuell darum gehen, das bereits gesetzlich Festgelegte auch in der Schulwirklichkeit umzusetzen. Dazu ist es für alle Beteiligten wichtig, Formen verbaler und psychischer Gewalt erkennen zu können. So können z.B. Eltern nur dann schützend einschreiten, wenn sie wahrgenommen und verstanden haben, dass ihr Kind einer solchen Gewalt ausgesetzt ist. Kinder und Jugendliche erfahren in Schulen unterschiedliche Formen von subtiler Gewalt. Diese geht von Gleichaltrigen, aber nicht selten auch von Lehrern aus. Dabei gibt es hier fließende Grenzen und eine Grauzone. Die subtilen Gewaltformen sind nicht immer leicht zu erkennen. Sie können in interaktionelle und strukturelle Gewalt unterteilt werden.

 

1. Interaktionelle Gewalt

Sie findet im Verhalten der an Schule Beteiligten statt. Zu den interaktionellen Gewaltformen seitens der LehrerInnen gehören vor allem Beschämungen durch

– abfällige und geringschätzige Bemerkungen, verletzende oder entwertende Worte, z.B.

  • „ Mathematik wirst du nie begreifen“
  • „ Hier hast du keine Chance“
  • „ Jetzt zeig‘ mal an der Tafel deine großartige Leistung“,
  • „ Da fehlt dir einfach die Begabung“

– beleidigende Ausdrücke

  • „ Du bist ein kleiner Mistkäfer“
  • „ Ihr seid ja alles Idioten“

– Schüler lächerlich machen

  • z.B. den Schüler an die Tafel holen bei einer Aufgabe, die dieser nicht erfüllen kann

– die Zuschreibung von negativen Eigenschaften

  • „ Hans, du Vergesskopf“, „Lisa, du Heulsuse“, „ Paul, du Pfeife“

– Kommentierungen der Herkunft „Wo soll es auch herkommen?“

– Sarkasmus, Zynismus und Ironie

  • „Sarkasmus, Zynismus und Ironie durch den Lehrenden sind im deutschen Schulalltag weit verbreitet, haben dort aber nichts zu suchen, denn sie sind „Waffe[n] in der Hand von Erwachsenen…( Bueb, 2006, S. 30 ). Denn diese Ausdrucks- und Verhaltensweisen des Lehrenden produzieren Angst; und diese Angst verhindert später, beim Abruf des Gelernten, kreatives Problemlösen.“ 2
    „Da muss man auf die Grenzen achten. Vereinzelte ironische Bemerkungen gehören nicht per se zur verbalen Gewalt. Sie werden im pädagogischen Alltag von den Schülern durchaus verstanden und können entspannend und deeskalierend wirken. Studien zeigen auch, dass Schüler zwischen einer pädagogisch gerechtfertigten Strafe und einer ungerechtfertigten Verletzung oder Kränkung unterscheiden können. Anders sieht es aber bei zynischen oder sarkastischen Äußerungen aus, die immer verletzend und diskriminierend sind.“ 3

– Bloßstellungen

– Bedrohungen

  • „ wenn du nicht ruhig bist, sitzt du bis zum Ende des Jahres auf der Bank“

 

Wie erschreckend verbreitet seelische Verletzungen an unseren Schulen sind hat die empirische Studie „Intakt“ im Jahre 2013 deutlich gemacht: durchschnittlich 16 % aller Lehrerinteraktionen sind leicht verletzend, 6 % sehr verletzend (!), unabhängig vom Schultyp.4

 

2. Strukturelle Gewalt

Diese im persönlichen Alltagshandeln angesiedelten Gewaltformen werden begünstigt und verstärkt durch den strukturellen Rahmen unseres institutionalisierten Schulsystems. Unser gegenwärtiges Schulsystem ist trotz anders lautender bildungspolitischer Bekundungen mit seinem defizitorientierten Noten- und Leistungsmessungssystem einseitig auf Selektion ausgerichtet. Es herrschen zunehmender, extremer Leistungsdruck und Konkurrenz.5 Die UN hat bereits 2007 Deutschland dafür angeklagt, ein sozial auslesendes und diskriminierendes Schulsystem zu haben, bei dem die Chancengleichheit verletzt wird.6 Zu dieser hatte sich Deutschland in der UN-Kinderrechtskonvention 1992 verpflichtet ( Artikel 28 ).7 Unser Schulsystem beinhaltet mithin Faktoren, die als strukturelle Gewalt betrachtet werden müssen:

 

„In der aktuellen Bildungspolitik können einige Entwicklungen identifiziert werden, die auf Traditionen von Drillpädagogik hinweisen und diese versuchen zu reaktualisieren. Dazu gehören vor allem Leistungs- und Zeitverdichtung, komprimierte Lehrpläne und verkürzte Schulzeiten, Selektionen nach der Grundschule…“ 8

 

In seinem Kern ist unser Schulsystem noch immer einem veralteten Menschenbild verhaftet. In diesem wird davon ausgegangen, dass Schüler nur unter Druck und ständiger Kontrolle lernen und leistungsbereit sind. Diese Grundannahme ist zwar u.A. von der neurobiologischen Forschung der letzten zwei Jahrzehnte widerlegt worden9, diese wissenschaftlichen Erkenntnisse werden aber von der Bildungspolitik bisher weitgehend ignoriert. Dies bedeutet, dass Schüler strukturell in ihrem Wesen als Menschen und in ihrer Würde missachtet und ihre Rechte auf individuelle Förderung, Anerkennung und Wertschätzung verletzt werden. Hier handelt es sich um Gewaltformen, welche gesellschaftlich noch kaum wahrgenommen und dementsprechend unwidersprochen hingenommen werden. Unsere Kinder sind dem bislang annähernd schutzlos ausgeliefert.

Die Entwicklung müsste weg von einer Beschämungspädagogik hin zu einer Anerkennungspädagogik gehen. Grundlage müssten wissenschaftliche entwicklungspsychologische sowie neurobiologische Erkenntnisse sein. Dazu gehört, dass Schüler selbstgesteuerte, selbstorganisierte und sich aus intrinsischer Motivation heraus entwickelnde Menschen sind. Für gesundes, erfolgversprechendes Lernen brauchen sie neben der Förderung ihrer Neugierde und ihres Forschergeistes vor allem Selbstwirksamkeitserfahrungen, d.h. die aus eigenen Erfahrungen gewonnene „subjektive Gewissheit, neue oder schwierige Anforderungssituationen auf Grund eigener Kompetenz bewältigen zu können“10. Die so erworbenen und erfahrenen Selbstkompetenzen motivieren von sich aus zu weiterem Lernen. Die an unseren Schulen übliche bloße Reproduktion eingetrichterten Wissens durch die SchülerInnen und dessen Abprüfung an für alle unterschiedslos gleichen Zeitpunkten durch Test´s, Arbeiten und Klausuren wird diesem Anspruch in keiner Weise gerecht. Genau betrachtet verletzt sie die von den Kultusbehörden selbst vertretenen Ziele individueller Förderung der Kinder und der Bildung „vom Kinde aus“.11 Die Schule sollte vielmehr einen strukturellen Rahmen bereitstellen, in dem Selbstwirksamkeitserfahrungen gemacht, reflektiert und eingeordnet werden können. Dies ist auf der jeweiligen Stufe des Lernens die Voraussetzung für das Angehen der nächsten Lernstufe. Diese sollte von entsprechend gut ausgebildeten und mit kommunikativen Kompetenzen ausgestatteten Lehrer(inne)n begleitet werden.12 Beschämungen müssten dauerhaft verhindert werden.

 

Das Lernen und Leben in der Schule kann nur gelingen, wenn es gemeinsam ausgehandelte und transparente Regeln und Vereinbarungen gibt. Das gilt auch für die Austragung von Konflikten mit Argumenten. In einer von Lehrern, Schülern und Eltern gemeinsam getragenen Schulkultur müssen die Integrität und Würde des Kindes sowie ein Verständnis von Schule als gewaltfreiem Raum im Mittelpunkt stehen. Zu einer demokratischen Schulkultur gehört auch, dass jegliche Beschämungsformen abgelehnt und vermieden werden. Es sind zunächst solche grundlegenden Überlegungen, über die sich Schulen verständigen müssen.13

 

Dazu würde ein offenes, Mut machendes Schulklima gehören, in dem über Gewalterfahrungen gesprochen werden kann. Die häufig anzutreffende Verleugnung dieses Problemfeldes müsste aufgehoben werden. Schüler/innen bräuchten einen neutralen, für sie ansprechbaren Erwachsenen, der ihnen beim Umgang mit einer Gewalterfahrung zur Seite steht und sich für sie einsetzt. In Schweden gibt es z.B. seit 2008 einen Kinderombutsmann dafür. Lehrer/innen bräuchten eine fundierte Aus- oder Weiterbildung für ihre kommunikativen persönlichen Beziehungskompetenzen sowie den Umgang mit Konfliktsituationen. Hierzu müssten ausreichende Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden, in denen sich eine – bislang fehlende – Wertschätzung für die Kinder ausdrücken würde. Eltern müssten zu Hause offen dafür sein, mit ihren Kindern über deren Gewalterfahrungen zu sprechen und Hilfe anzubieten. Den Eltern sollten zusätzlich selbst externe Hilfen angeboten werden.

 

Insgesamt braucht es eine Entwicklung weg von einer Defizit- hin zu einer Wertschätzungs- und Anerkennungskultur sowohl auf persönlicher als auch auf institutioneller Ebene.

 

In einer vertrauensvollen Schule geht es um die Entwicklung einer Anerkennungskultur, die sowohl die Heterogenität von Lerngruppen und Klassen, als auch die Gleichwertigkeit ihrer Mitglieder in den Mittelpunkt stellt und wertschätzt…. Schulen brauchen eine Kultur des produktiven Umgangs mit Fehlern, Irrtümern und Schwächen. 14

 

Gesellschaftspolitisch zeigt sich gegenwärtig, dass die Zeit für eine fundamentale Veränderung in diese Richtung gekommen ist. Es gibt eine breiter werdende öffentliche Diskussion dieses Themas. Darüber hinaus gibt es mittlerweile eine ganze Reihe ermutigender Beispiele für „Leuchtturmschulen“ in der gesamten Bundesrepublik, in denen diese Grundsätze aufgenommen, reflektiert und in einen positiven pädagogischen Alltag übersetzt worden sind – mit beeindruckenden positiven Ergebnissen.15 Diese Entwicklung kann von uns Eltern unter anderem dadurch unterstützt werden, dass wir die Belastung unserer Kinder durch alltägliche Gewalterfahrungen unserer Kinder ernst nehmen, mit ihnen darüber sprechen, sie danach aktiv fragen und sie u.a. dadurch mehr schützen, dass wir auch mit Lehrern, SchulleiterInnen und Erziehern darüber sprechen und nach neuen Wegen suchen.

 

ViSdP:  Harald Lochmüller   Delmenhorster Str. 14a   15738 Zeuthen

 

  1.  Laut „LBS-Kinderthermometer 2007“ , für das 6200 Kinder aus 7 Bundesländern befragt wurden, klagen 20% aller 9 – 14jährigen über mobbende Lehrer, d.h. über Bloßstellungen, Hänseleien und Beleidigungen.
    Vgl. Niemeyer, C. : Über die Wiederkehr des Kinderfehler-Paradigmas oder: Wo bleibt der sozialpädagogische Blick, in: neue praxis ( Sonderheft 10 ), 2011, S. 98 – 101
  2.  Spitzer, Manfred – Medizin für die Bildung; Ein Weg aus der Krise, Heidelberg 2010, S. 143. Zitat darin von:  Bueb, Bernhard – Lob der Disziplin, Eine Streitschrift; Berlin 2006, S. 30
  3.  Frankfurter Rundschau 17.7.2012: Interview mit Benno Hafeneger: „Im Klassenraum regiert die Beschämung“
  4.  Prengel, Annedore – Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz
    Verlag Barbara Budrich, Berlin 2013
  5.  Dass es dabei weder um individuelle Förderung noch um objektive Messung von Leistungen geht, hat die Grundschullehrerin Sabine Czerny überzeugend herausgearbeitet. Sie beschreibt die fatalen negativen Auswirkungen auf das Lernen und die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder. Siehe: Czerny, Sabine – Was wir unseren Kindern in der Schule antun … und wie wir das ändern könnten; München 2010
  6.  A.a.O. S. 42
  7.  siehe Broschüre des BMFSFJ: Übereinkommen über die Rechte des Kindes
  8.  Hafeneger, Benno – Strafen, prügeln, missbrauchen; Gewalt in der Pädagogik; Frankfurt/Main, 2011, S. 66
  9.  Hierzu gab es zahllose Publikationen; exemplarisch seien hier die Neurobiologen Manfred Spitzer und Gerald Hüther genannt, z.B.
    Spitzer, Manfred – Medizin für die Bildung; Ein Weg aus der Krise, Heidelberg 2010
    Hüther, Gerald – Selbstorganisation , Vortrag 2011 auf DVD, erhältlich bei www.auditorium-netzwerk.de
  10.  Der Psychologe Albert Bandura, zitiert nach dem sehr lesenswerten Buch. Eichel, Christine – Deutschland, deine Lehrer; München 2014, S. 69
  11.  z.B. von der Brandenburger Ministerin für Bildung, Jugend und Sport, Frau Dr. Martina Münch, in ihrem Vortrag bei der SPD-Fachkonferenz „Zukunft von Bildung und Wissenschaft“ am 21.04.2012  in Bernau vertreten
  12.  siehe dazu ausführlich besprochen in Eichel, Christine – Deutschland, deine Lehrer; München 2014
  13.  Siehe 3. a.a.O.
  14.  a.aO.
  15.  – Wohl nicht zufällig hatten die Schulen, die in den vergangenen Jahren den deutschen Schulpreis gewonnen haben, solche Erkenntnisse bereits umgesetzt;
    – Einige Leuchtturmschulen werden in dem Film „Treibhäuser der Zukunft“ von Reinhard Kahl dargestellt.;
    – in Berlin gibt es seit 2007 eine Gemeinschaftsschule, die neurobiologische und gesellschaftspolitische Er kenntnisse konsequent und erfolgreich umsetzt, die ESBZ (Evangelische Schule Berlin Zentrum), siehe Rasfeld, Margret; Spiegel, Peter – EduAction , Wir machen Schule; Hamburg 2012
    Rasfeld, Margret: Das Geheimnis des Gelingens – Stell dir vor es ist Schule und alle wollen hin; 2011
    Vortrag auf DVD, zu bestellen unter www.paedagogikfilme.de , Edition Hüther Folge 3
    –  Seit August 2012 gibt es eine bundesweite Initiative zu einer grundlegenden Veränderung von Schulen, getragen von namhaften LehrerInnen, Neurobiologen, Wirtschaftsbossen und bekannten Persönlichkeiten: „Schule im Aufbruch“ ; www.schule-im-aufbruch.de 
    –   Ein sehr empfehlenswertes Buch zum Thema Schule, von einem Schweizer Schulleiter geschrieben, ist:
    Müller, Andreas –Die Schule schwänzt das Lernen. Und keiner sitzt nach. Bern 2013