Misserfolge

Argument: Schüler in der Grundschule durch Misserfolge auf spätere Misserfolge im Leben vorbereiten

 

Schüler und Schülerinnen sollen durch ihren Schulbesuch bestmöglich auf ein erfolgreiches und glückliches Leben in unserer Gesellschaft vorbereitet werden. In dieser Zielsetzung stimmen sicherlich alle Beteiligten überein. Wie dieses Ziel in der Schule erreicht werden soll, dazu gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen.

Aus traditioneller pädagogischer Sicht wird häufig vertreten, Schüler/innen sollten gezielt in der Schule Misserfolge erleben und diese sollten klassen- oder schulöffentlich bekannt gemacht werden – so z.B. beim Aushängen der Gesamtleistungslisten nach dem jährlichen Sportfest. Auf diese Weise würden Schüler/innen schon von der 1. Klasse an lernen, mit Misserfolgen und Frustrationen umzugehen, und dies würde sie für die später in ihrem Erwachsenenleben auftretenden Misserfolge stärken.

Die Neurowissenschaften und die Psychologie haben sich in den vergangenen Jahren intensiv mit den Bedingungen erfolgreichen Lernens befasst. Im Lichte ihrer wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse erscheint die Annahme, gezielte Misserfolgserlebnisse würden zur Stärkung der Schüler/innen führen, als irreführend und falsch. Es sind vielmehr folgende Auswirkungen zu erwarten:

1. Bei Schüler/innen, die schon von Beginn der Grundschule an gezielt mit ihren Fehlern, Defiziten, mit Misserfolg und Scheitern konfrontiert werden, entstehen zuallererst Unsicherheit und Angst. Dies hat fatale Folgen. Die Hirnforschung hat belegt, dass unser Gehirn unter der Bedingung von Unsicherheit und Angst nicht in der Lage ist, das zu leisten, was es sonst könnte1. So werden weitere Misserfolge wahrscheinlicher und schon bald eine Haltung gebahnt, in der das Selbstbild und das Selbstwertgefühl geprägt ist von der eigenen Erwartung weiterer Misserfolge. Das gewünschte Ziel der Stärkung des Schülers/der Schülerin wird nicht nur verfehlt, sondern paradoxerweise wird das Gegenteil erreicht: eine fundamentale Schwächung.

Die Kommunikationswissenschaft beschreibt den so entstehenden Teufelskreis: Misserfolg – führt zu negativer Erwartung – diese bahnt den nächsten Misserfolg – wiederholte Misserfolge führen zu einer fixierten negativen Erwartung usw. Wenn dann noch von aussen Zuschreibungen erfolgen ( „Du Vergesskopf“, „Du bist unbegabt für…Mathe“ usw. ) ist der Sack zu. Ist der Schüler/ die Schülerin von seiner Unfähigkeit überzeugt, entwickelt er/ sie eine fixierte negative Haltung zu sich selbst. Ist erst einmal der Glaube an sich selbst verloren, ist eine schwer wieder rückgängig zu machende Schwächung des Schülers/ der Schülerin eingetreten. Dazu gibt es einschlägige neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse.

2. Misserfolgserlebnisse bedeuten seelischen Schmerz. Die Hirnforschung hat belegt, dass seelischer Schmerz von denselben Hirnregionen verarbeitet wird wie körperlicher Schmerz.2 Er löst automatisch Schutz- und Bewältigungsstrategien bei Schülern/Schülerinnen aus, denn er wird als Gefahr für die körperliche und seelische Integrität wahrgenommen. Dies ist in unserem auf Leistungsbewertung und darauf basierender Selektion ausgerichteten Schulsystem auch berechtigt. Die automatisch und unwillkürlich einsetzenden Schutz- und Bewältigungsstrategien zeigen sich in zwei grundlegenden Verhaltensrichtungen:3

A) entweder führt dies zur Mobilisierung beim Schüler/ Schülerin – in Form von Kampf oder Flucht. Schüler/ innen zeigen dann entweder körperliche Unruhe, Aggressivität oder Passivität, Verweigerungshaltung.

B) Wird die Gefahr als noch bedrohlicher eingeschätzt, führt dies bei Schülern/ Schülerinnen zum Abschalten für das Lernen notwendiger Gehirnareale– auch dies im Schulalltag oft beobachtet als Wegträumen, „nicht da sein“ usw. Beide Reaktionsformen sind nicht willentlich oder bewusst, beide entstehen automatisch aufgrund des Aufbaus und der Funktion unseres Gehirns und Nervensystems. Wird ein solches Verhalten von Seiten der Lehrer als absichtlich und gewollt fehl interpretiert oder gar noch sanktioniert, führt dies zu einer Verstärkung der Schutz- und Bewältigungshaltung. Dies stellt wiederum eine Schwächung und nicht eine Stärkung des Schülers/ der Schülerin dar.

3. Wenn andere wichtige Personen, z.B. Mitschüler/innen, den Misserfolg auch noch mitbekommen, dann wird er für den Schüler/ die Schülerin besonders beschämend. Die Auswirkungen von Beschämungen werden derzeit gesellschaftlich noch völlig unterschätzt. Zu Beschämungen gehören einerseits Hänseleien, ausgelacht werden durch Mitschüler/innen, andererseits z.B. Zuschreibungen ( „Du bist unbegabt“ ), Zynismus, Sarkasmus und bestimmte Formen von Ironie seitens der LehrerInnen. Ganz kurz zusammengefasst führen sie zur Aktivierung der Gefahrensysteme bei Schülern/ Schülerinnen mit entsprechenden Schutz-, Abwehr- und Bewältigungsstrategien. Ihnen allen gemeinsam ist: sie wirken alle schwächend und lernverhindernd. Was die SchülerInnen hier hauptsächlich lernen ist: „die Lernsituation ist unsicher, ich werde vor Beschämungen nicht geschützt, also muss ich mich selbst schützen“. Dies geschieht dann durch Einnahme von lernbehindernden Defensivhaltungen.

4. Dies betrifft nicht nur die speziellen Schüler/ Schülerinnen selbst, die persönlich einen Misserfolg erleben oder beschämt werden. Die Neurowissenschaften haben entdeckt, dass wir Menschen in unserem Gehirn ein System besitzen, mit dem wir beständig das, was Andere in unserer unmittelbaren Umgebung erleben ( z.B. den Schmerz von Beschämungen ) im eigenen Gehirn abbilden und unbewusst genauso miterleben wie der Betroffene selbst – die sogenannten Spiegelneurone. Nicht nur das direkt von Beschämung betroffene Kind reagiert, sondern alle Schüler einer Klasse erleben die Beschämung und nehmen entsprechend ihres bedrohten Sicherheitsgefühls ebenfalls eine defensive Schutzhaltung ein. Dies trägt z.B. zu Klassen bei, die gewöhnlich entweder als laut, aggressiv und besonders störend oder als sich verweigernd, lernfaul, lethargisch und unmotiviert bezeichnet werden. Welche von diesen Verhaltensformen auch auftritt – bei allen werden die Schüler/ Schülerinnen einer Klasse eher geschwächt als gestärkt. Schulisches Lernen wird gehemmt oder gar weitgehend verhindert.

Um noch einem Missverständnis vorzubeugen: es geht nicht darum, Misserfolgserlebnisse vollständig zu verhindern oder Schüler „in Watte zu packen“. Misserfolgserlebnisse treten sowieso von ganz alleine ein, sie brauchen und sollten nicht noch zusätzlich angestrebt werden – schon gar nicht in der Grundschule. Hier sind die Schüler/ innen noch besonders fragil und schützenswert. Sie können noch keine stabilen, in sich festen und wehrhaften Persönlichkeiten sein. Um es in ein Bild zu kleiden: Schwimmstunden für ein Kind, das gerade erst Schwimmen lernt, wird man nicht in einem Wellenbad mit meterhohen Wellen abhalten. Das liegt für jeden auf der Hand. Dies würde eine Überforderung darstellen und würde für die Kinder eine prägende negative ( Angst- ) Lernerfahrung bedeuten. Eine Aufgabenstellung, die bereits Misserfolgserlebnisse als pädagogisch erwünscht vorsieht und diese danach öffentlich darstellt, bedeutet für das betroffene Kind nichts anderes.

Die produktive Verarbeitung eines Misserfolges im Sinne einer Stärkung setzt bereits eine stabile Persönlichkeit mit einem gefestigten positiven Selbstwertgefühl voraus. Dieses entsteht aber – das zeigt die Entwicklungspsychologie – nur durch vorhergehende, wiederholte Kompetenz- und Selbstwirksamkeitserfahrungen ( „Ich kann etwas! Ich kann mit meinen Fähigkeiten etwas bewirken!“ ). Diese führen zu einer positiven Überzeugung von eigenem Wert und eigenen Fähigkeiten. Ist eine Persönlichkeit derart gefestigt, dann kann ein Misserfolgserlebnis durch zahllose gespeicherte Erfolgserlebnisse relativiert und in etwas Produktives umgewandelt werden. Aber erst dann. Von einem Grundschulkind kann dies aufgrund seiner Entwicklungsphase nicht erwartet werden.

 

Fazit:

Im Lichte der erwähnten Erkenntnisse aus Neurowissenschaft, Kommunikationswissenschaft und Psychologie lässt sich die Erwartung, GrundschülerInnen durch gezielte einseitige Konfrontation mit Misserfolgen zu stärken, nicht aufrechterhalten. Im Gegenteil können destruktive Auswirkungen für das Lernen und die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler/ Schülerinnen aufgrund der breiten Forschungsergebnisse verschiedener Disziplinen als gesichert gelten.

Eine moderne Pädagogik sollte vielmehr Strukturen schaffen, in denen Schüler und Schülerinnen Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, Selbstorganisation und Vertrauen in sich selbst machen können. Misserfolge sollten unbedingt dort, wo sie von selbst auftreten, ohne Bewertung bleiben ( keine Schulnoten!). Dann wäre die gewünschte Stärkung zu erwarten. Beispiele für Schulen, die dies umsetzen, gibt es mittlerweile zunehmend.

 

Für Interessierte hier Angaben zu weiterführender Literatur und DVDs:

 

BÜCHER:

Bauer, Joachim – Lob der Schule ; Hamburg 2007

Bauer, Joachim – Schmerzgrenze ; München 2011

Czerny, Sabine – Was wir unseren Kindern in der Schule antun … und wie wir das ändern könnten; München 2010

Rasfeld, Margret; Spiegel, Peter – EduAction, Wir machen Schule; Hamburg 2012

 

DVD:

Rasfeld, Margret – Das Geheimnis des Gelingens ; Stell Dir vor es ist Schule und alle wollen hin“ , Edition Hüther Folge 3

http://shop.paedagogikfilme.de

 

V.i.S.d.P. Harald Lochmüller, Delmenhorster Str. 14a, 15738 Zeuthen

 

  1. Vgl. Infopapier: Neurobiologische Grundlagen gelingenden Lernens – Das Ampelmodell von Stephen Porges
  2. siehe Bauer, Joachim – Lob der Schule , Hamburg 2007 , bes. S. 30 ff
  3. vgl. die Infopapiere:    Schulisches Lernen – Bewertung und Beschämung aus neurowissenschaftlicher Sicht