Schulkonflikte
Themenpapier 1 – Beschmieren der Schultoilette
Langfassung
Ausgangssituation/Konfliktsituation:
Die Wände der Schülertoilette einer Schule sind mit Kot beschmiert. Es kann nicht herausgefunden werden, wer dies getan hat.
Bisherige Lösung:
Die Schulleitung ergreift Maßnahmen, um die Wiederholung dieser Handlung möglichst auszuschliessen. Dazu gehört im Kern: wenn ein Schüler[1] die Toilette benutzen möchte, muss er sich in eine Liste eintragen mit Uhrzeit und Namen. Er muß von einem anderen Schüler begleitet werden, der ebenfalls seinen Namen in die Liste eintragen muss. Dieser Schüler ist verpflichtet, den anderen Schüler zu überwachen und unerwünschte Handlungen der Schulleitung bzw. dem Fachlehrer zu melden.
Einschätzung:
Die Schulleitung begreift das Beschmieren der Toilette ausschließlich als destruktive Tat, die verhindert werden muss. Sie fragt nicht danach, ob diese Tat vielleicht noch eine zweite Seite hat – ob es eine Art Symptom darstellen könnte – also auf ein dahinter liegendes Problem hinweist. Sie nimmt damit eine verengte einseitige Perspektive ein, die ihren Handlungsspielraum einschränkt. Daraus folgt dann ein einseitiger Lösungsansatz: autoritäre, sanktionierende, kontrollierende Maßnahmen.
Um ein Beispiel dafür zu geben: Das ist in etwa so, als wenn im Auto die rote Bremsenkontrollleuchte aufleuchtet und man dann entweder die Birne rausdreht oder das Elektrokabel zur Leuchte durchschneidet. Die Leuchte leuchtet dann tatsächlich nicht mehr. Aber das Problem, auf das die Leuchte hingewiesen hat, ist damit in keiner Weise beseitigt. Die Gefahr bleibt unverändert.
Auswirkungen:
Vorweg: Das Beschmieren von Toilettenwänden mit Kot erscheint auch für uns (ONL) als keine konstruktive Lösung und nicht hinnehmbar. Es ruft dazu auf, sich mit der (dahinter liegenden) Problematik zu befassen und nach Lösungen dafür zu suchen. Es ist anerkennenswert, dass die Schulleitung die Vorfälle ernst nimmt, Verantwortung übernimmt und handelnd nach Lösungen sucht. So sollen offensichtlich die Bedingungen für erfolgreiches Lernen an der Schule wiederhergestellt werden.
Es sind allerdings Zweifel angebracht daran, dass die gefundene Lösung tatsächlich das erreicht, was bezweckt werden soll. Das Beschmieren der Toilette wird ausschliesslich als störende und zu verhindernde Tat betrachtet. Es wird nicht nach möglichen Ursachen dafür gefragt sondern einzig auf Maßnahmen gesetzt, die so etwas zukünftig verhindern sollen. Die getroffenen Maßnahmen schaffen einen Rahmen, in dem es um Täter, Sanktionierung, Überwachung und Kontrolle geht, und enthalten eine Grundannahme von Misstrauen bezogen auf alle Schüler.
Von der Schulleitung werden autoritäre disziplinarische Maßnahmen verpflichtend verordnet. Die Bewegungsfreiheit der Schüler wird massiv eingeschränkt. Dies führt zu einer Verschlechterung der Lernbedingungen. Denn gutes Lernen setzt Sicherheit und Vertrauen in die Lernsituation und die dort bestehenden Beziehungen voraus. (Der Zusammenhang zwischen Sicherheit, Vertrauen und gutem Lernen ist inzwischen wissenschaftlich nachgewiesen – vgl. auch unser Infopapier Ampelmodell.)
Die von der Schulleitung verpflichtend verordneten autoritären disziplinarischen Maßnahmen widersprechen somit dem Auftrag von Schule, möglichst gute Lernbedingungen zu schaffen.
Darüber hinaus beinhaltet die von der Schule getroffen Maßnahme, dass Schüler Mitschüler zur Toilette begleiten und darüber hinterher Auskunft geben müssen. Diese Verpflichtung zu Kontrollhandlungen und Denunziation ist sehr problematisch: denn Schüler werden dadurch zu „Polizisten“ bzw. „Spionen“ gemacht. So wird eine wichtige Generationengrenze aufgehoben, denn Überwachung und Rahmensetzung ist Aufgabe der Erwachsenen: in der Schule sind das die Schulleitung und die Lehrer – nicht die Schüler! Letztere werden in die Position von Erfüllungsgehilfen gezwungen. Wer diese Aufgabe nicht übernimmt, läuft Gefahr, dafür sanktioniert zu werden.
Auch in dieser Hinsicht ist die Freiheit aufgehoben zugunsten eines Zwangssystems. Dies widerspricht der Aufgabe von Schule zur Demokratiebildung.
Zugleich werden die Schüler in einen unlösbaren Loyalitätskonflikt gezwungen: als Schüler gilt ihre primäre Loyalität ihren Mitschülern, ihrer Peergroup. Vertrauen ineinander ist unverzichtbar für ihr Sicherheitsgefühl und ist Voraussetzung für gutes Lernen. Dieses Vertrauen wird durch die Überwachungsfunktion gestört, die eine Atmosphäre von gegenseitigem Misstrauen erzeugt, welche mit Notwendigkeit Schutz- und Verteidigungsmechanismen bei den Schülern auslöst. So wird gutes Lernen behindert.
Die von der Schulleitung verordneten Maßnahmen stellen einen Lösungsversuch auf der Ebene der Macht dar. Dies führt dazu, dass Schüler hier ihre Ohnmacht demonstriert bekommen. Auch das muss folgerichtig Abwehrverhalten bei den Schülern hervorrufen, denn Ohnmacht gehört für Menschen zu den am schwersten erträglichen Gefühlen. Die für erfolgreiches Lernen erforderliche Atmosphäre von Vertrauen, Kooperation und Offenheit wird massiv gestört.
Auch Lehrer werden zu Kontrolleuren, Überwachern, Sanktionierern – also zu einer potentiellen Bedrohung für die Schüler. Dadurch wird die Lehrer-Schüler-Beziehung im Kern gestört. Es ist mittlerweile unstrittig, daß die Lehrer-Schüler-Beziehung die wichtigste Variable für gutes Lernen darstellt. (Das weiß jeder aus eigener Schulerfahrung und jetzt ist dies auch wissenschaftlich erwiesen)[2] Auch aus dieser Perspektive betrachtet haben die Maßnahmen der Schulleitung negative Auswirkungen auf das Lernen.
Wenn man noch einen Schritt weiter geht und genauer hinschaut, dann wird sogar deutlich, dass die Schule mit ihrer Reaktion von einem falschen Menschenbild ausgeht. Sie löst nämlich den potentiellen „Täter“ aus seinem Schulkontext heraus und betrachtet seine Handlungen isoliert vom Kontext, also isoliert von seiner Lebens- und Schulsituation sowie den damit zusammenhängenden Beziehungen. Dass die Tat einen Bezug auf die Schule haben kann, also eine Reaktion auf vorhergehende Vorgänge in der Schule darstellen könnte, wird überhaupt nicht in Betracht gezogen. Jedenfalls lassen die getroffenen Maßnahmen keinen anderen Schluss zu. Leider zeigt sich hier eine weit verbreitete Sicht in Gesellschaft und Schule, Menschen nicht als soziale Wesen zu betrachten, sondern der Einfachheit halber aus dem jeweiligen Situations- und Beziehungsgefüge herauszulösen. Die Schüler werden so verdinglicht. Dies löst mit Notwendigkeit defensive Haltungen bei ihnen aus. Die zugrunde liegenden Konflikte können nicht adäquat gelöst werden.
Zusammengefasst kann davon ausgegangen werden, dass die gewählte Herangehensweise und die konkreten Maßnahmen trotz guter Absichten in mehrfacher Hinsicht problematisch, kontraproduktiv und für das Lernen hinderlich betrachtet werden müssen.
Zudem ist sogar fraglich, ob das gewünschte Ziel – absolute Verhinderung von aggressivem Ausagieren seitens der Schüler – dadurch wirklich erreicht werden kann. Denn in der gleichen Schule hat es schon vor Jahren ähnliche Vorfälle gegeben wie z.B. Beschmieren des Sportplatzes. Sollte unsere Annahme stimmen, dass das Beschmieren einen (wenn auch hilflosen) Lösungsversuch darstellt, dann macht die Reaktion der Schulleitung eine konstruktivere Lösung schwerer statt sie zu ermöglichen. Denn wenn diese Tat nicht zur rationalen Reflektion der Erwachsenen führt, was sollen die Schüler unter offensichtlichem Leidensdruck denn als nächstes tun?
So gesehen befindet sich die Schule in einer Situation, in der ein Lösungsvorschlag sehr hilfreich sein könnte, der die gewünschten Ziele besser erreichen und positive Auswirkungen auf das Lernen haben würde. Wir (ONL) wissen aus eigener Erfahrung, dass sich Schulen mit Vorschlägen von außen oft schwer tun, solche Vorschläge als unerwünschte Einmischung betrachten und bedauerlicherweise zurückweisen. In vielen Berufen ist es allerdings normal und selbstverständlich, sich bei Konfliktsituationen Hilfe von außen zu holen. Aus einer solchen Perspektive sind manchmal Aspekte sichtbar, die von innen nur schwer erkennbar sind, besonders weil man dort selbst Teil einer schwierigen Dynamik ist. So gesehen stellt eine Reflexion der Maßnahmen von außen, z.B. von Elternseite, auch keine Entwertung der Schule dar, sondern eine normale Herangehensweise. In der Wirtschaft oder den helfenden Berufen ist dies Alltag. Wir verstehen dieses Themenpapier deshalb als konstruktiven Beitrag.
Neue Perspektive und Lösungsvorschläge:
Wir betrachten das Beschmieren der Schultoiletten nicht nur aus der Perspektive einer zu verhindernden und zu verurteilenden Tat. Wir schlagen vor, einmal zu probieren, diese Tat selbst als einen (eher hilflosen) Lösungsversuch anzusehen. Was kann dabei herauskommen, wenn man diese Perspektive weiterdenkt? Folgendes könnte sich ergeben:
Diese Tat war nicht nur destruktiv sondern sie hatte ein Ziel, nämlich Aufmerksamkeit zu wecken für einen ungelösten Konflikt. So gesehen wäre sie Sprache, wenn auch unscharf, mit einfachen Mitteln und erst einmal wenig verständlich. Hier versucht ein Schüler vielleicht, etwas zum Ausdruck zu bringen, was mit seinem Erleben an der Schule zu tun hat. Man könnte mutmaßen, daß der Schüler etwas sehr „Scheisse“ findet und nach einer Lösung für seinen damit verbundenen Stress sucht. Das Mittel, was er verwendet, führt aber (bisher) nicht zu einer Aufklärung des zugrundliegenden Konfliktes. Hierzu müsste dieser auf eine andere Ebene gehoben werden – von der materiell-symbolischen zur verbal-reflektierten. Da der Schüler durch die Tat zeigt, daß er zur Zeit keine bessere Lösung weiß, also hilflos ist, sollte das Lösungsangebot auf der neuen höheren Ebene von den Erwachsenen kommen. Die bringen ja zumeist aufgrund des Altersunterschieds, größerer Lebenserfahrung und ggf. durch Aus- und Fortbildungen bessere Voraussetzungen dazu mit. Unser Vorschlag wäre, den Schüler auf geeignete Weise zu einer verbalen Darstellung seines erlebten Konfliktes einzuladen. Dies würde die Chance auf ein Verständnis des Konfliktes stark erhöhen. Ohne ein klares, gutes und geteiltes Verständnis des Konfliktes ist aber eine adäquate und dauerhafte gute Lösung schwer vorstellbar. Ohne gute Diagnose besteht wenig Aussicht auf eine erfolgversprechende Behandlung, das kennt wohl jeder aus seinem Alltag. Da der Schüler aber eine anonyme Tat gewählt hat, ist anzunehmen, dass er Gründe dafür hat, sich nicht offen zu äußern. Möglicherweise spielen hier Schutzbedürfnisse eine wichtige Rolle. Vielleicht befürchtet er, nicht verstanden, sanktioniert, bestraft, ausgelacht, ausgeschlossen, gemobbt zu werden o.ä. Wenn man das Bedürfnis nach Schutz vor negativen Reaktionen als berechtigt ansieht (was wohl jeder für sich persönlich in Anspruch nehmen würde), dann sollte dem Schüler eine andere Art von anonymer Mitteilung angeboten werden – diesmal aber auf eine konstruktivere, weil potentiell verständlichere, verbale Weise. Dies könnte z.B. so aussehen, dass an einem geeigneten Ort an der Schule, der wenig einsehbar ist, ein Kasten aufgehängt wird, in den unbeobachtet ein Text eingeworfen werden kann. Dies könnte nicht nur vom „Täter“ genutzt werden sondern auch von anderen Personen (Schüler, Lehrer, Eltern), die etwas zur Lösung des Problems beitragen möchten. Hier würde also ein ganz anderer Rahmen geschaffen, nämlich der Rahmen einer vertrauensvollen kooperativen Kommunikation, zunächst noch anonym. Es würde von Schulseite kommuniziert: Wir nehmen an, dass du – Schüler – uns mit der Schmiererei etwas Wichtiges mitteilen wolltest. Wir sind daran interessiert zu erfahren, was du gemeint hast, denn durch den Kot an der Wand verstehen wir es noch nicht genug. Wir vermuten, daß du dich vor etwaigen negativen Reaktionen z.B. von uns Lehrern schützen willst und uns noch nicht genug vertraust, dass du mit einer klar geäußerten Kritik ernst genommen und gut behandelt werden würdest. Deshalb möchten wir dir im ersten Schritt anbieten, deine Mitteilung auf anonyme und geschützte Art und Weise zu machen. Du könntest auch… [weitere Angebote, z.B. Vertrauenslehrer ansprechen unter der Zusicherung der Anonymität; einen Brief per Post schicken; einen anderen Weg für eine sprachliche Mitteilung wählen; eine erwachsene Vertrauensperson von außerhalb der Schule ansprechen, die als Vermittler dienen könnte usw. ]. Wir möchten mit dir in einen Austausch kommen und gemeinsam nach einer guten Lösung für das Problem suchen, das du erlebst. Wir würden dir auf deine Mitteilung antworten, z.B. unsere Antwort an den Kasten klemmen [oder eine bessere Weise, hier wäre Kreativität gefragt]. Dann würden wir mit dir abstimmen, wie wir weiter vorgehen wollen….
Dies wäre der Anfang für einen wertschätzenden, respektvollen, zunehmend vertrauensvollen Dialog auf Augenhöhe mit dem gemeinsamen Ziel, eine für alle Beteiligten gute Lösung für das dahinter liegende Problem oder die dahinter liegenden Probleme zu finden.
Auswirkungen:
Durch dieses Vorgehen besteht die Chance, dass hinter der Tat liegende Probleme erkannt und verstanden werden können. Dem Schüler kann so ein Weg aus Hilflosigkeit und Defensivhaltung hin zu einem gegenseitig wertschätzenden Dialog eröffnet werden, in dem kooperativ konstruktive Lösungen dafür gefunden werden können. Dies würde zur Entängstigung nicht nur dieses Schülers sondern aller Schüler der Schule beitragen, die diesen Konflikt mitbekommen haben. Es würde eine vertrauensvolle, kooperative, wertschätzende Atmosphäre an der Schule ermöglichen. Damit hätte es positive Auswirkungen auf erfolgreiches Lernen aller Schüler. Welches Potential in einer solchen Veränderung steckt, kann z.B. an Schulen beobachtet werden, die in den letzten Jahren den Deutschen Schulpreis erhalten haben. Die positiven Auswirkungen würden weit über das Einzelereignis hinausgehen, denn es würde Schülern, Lehrern und Eltern gezeigt, wie Konflikte für eine wünschenswerte Schulentwicklung genutzt werden könnten. Dies würde sehr wahrscheinlich die Beteiligten ermutigen, ungelöste Konflikte einzubringen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Schule würde zu einem Ort gemeinsamen Wachsens.[i]
V.i.S.d.P. Harald Lochmüller Delmenhorster Str. 14a 15738 Zeuthen
[1] Zur besseren Lesbarkeit wird jeweils nur die männliche Form gewählt, gemeint sind beide Geschlechter
[2] Siehe bei Müller, Andreas – Die Schule schwänzt das Lernen, Bern 2013; besonders S. 17 und 157. Mit einer Effektstärke von .72 kommt der Beziehung Lehrer-Lernender eine hochrelevante Bedeutung zu.
[i] www.offenes-netzwerk-lernen.de | kontakt@offenes-netzwerk-lernen.de